25. Juli 2005, Der Zürcher Oberländer

Eine Stimme, die unter die Haut geht

Noëmi Nadelmann eröffnete die Zürcher Kammerkonzerte dieses Sommers


Weshalb nicht in die kühle Kirche gehen, wenn draussen die Hitze lähmt? Die neue Veranstaltungsreihe "Zürcher Kammerkonzerte" bringt diesen Monat in vier Konzerten interessante Künstlerpersönlichkeiten in die Kirche St. Peter: die international gefeierte Klarinettistin Sharon Kam (Mo, 18. Juli), die Altmeisterin auf dem Klavier Elisabeth Leonskaja (Fr, 22. Juli) und den Geiger-Jungstar Ilya Gringolts (Fr, 5. August). Die Konzerte beginnen jeweils um 19.30 Uhr.

Ein erster Blick ins Programm zeigt: Bei den Zürcher Kammerkonzerten geht es nicht einfach um schlangenfängerische Hits. Es sind vielmehr dramaturgisch durchdachte und künstlerisch reizvolle Programmkonzepte, welche die Initiatoren hier präsentieren. Und sie scheinen zu ziehen. Das erste Konzert vom Donnerstagabend jedenfalls mit einem Liederabend von Noëmi Nadelmann fand vor vollem Kirchenschiff statt. Das Motto des Programms war "Frauenliebe, Frauenleben. Lebensansichten einer liebenden Frau", zu welchem sechs Komponisten von Mozart über Brahms bis in die Moderne zu Wort kamen.


Requiem des Vaters

Das Hauptgewicht lag auf dem Zyklus "Mein blaues Klavier: Ein Requiem für Else Lasker-Schüler" von Leo Nadelmann (1913-1998), dem Vater der Sängerin. Es ist eine sehr tragische Geschichte, die Künstlerkarriere von Leo Nadelmann. Nach Jahren einer blendenden Pianistenkarriere musste er diese 1960 wegen einer Fingerlähmung abbrechen. Er begann zu komponieren, wurde der erste Leiter des Ressorts Musik am Schweizer Fernsehen und lehrte an der Basler Musik-Akademie. Verwunden hat er seine verlorene Pianistenlaufbahn aber nie.

Sein Requiem, welches Noëmi Nadelmann mit ihrem hochmusikalischen und beredten Begleiter Adrian Baianu am Donnerstag mit beeindruckender Hingabe und lyrischer Dichte präsentierte, ging direkt unter die Haut. Äusserst sparsam gesetzt, entfaltet sich hier in engstem Miteinander von Klaviersatz und Stimme eine fragile, weit über sich hinauswachsende luzide Trauer. Die Betroffenheit im Publikum war gross.

Moderne liegt ihr näher

Vorbereitet wurde man auf diese tiefgründige Melancholie mit drei Liedern von Franz Schreker (1878-1934). Noëmi Nadelmann packte einen gleich nach der Pause mit dessen "Vernichtet ist mein Lebensglück". Unerhört, wie sie das Legato weitatmig spannte, die Stimme fliessen liess und doch die gebrochene Kraft ausstrahlte, die hier verborgen ist. Man spürte sofort, ihr liegt die Moderne näher als die "naivere" klassisch-romantische Liedkunst. Zuvor nämlich hatte sie bei Mozart, Schubert und Brahms mit dem Registerwechsel in die Kopfstimme noch spürbar Mühe bekundet.

Die Brüche der Moderne hingegen, die Farbgebung in den schwierigeren Harmonien, das Ausleben von Ironie bei den Heine-Vertonungen von Richard Strauss, das liegt ihr ganz eindeutig im Blut. Viel zu dieser beeindruckenden Vitalität und Zärtlichkeit des zweiten Programmteils beigetragen hat auch der Pianist Adrian Baianu. Er vermochte trotz schwieriger Kirchenakustik eine vielsagende, strukturell glasklare und doch geheimnisvoll schwebende Aura heraufzubeschwören.


Sibylle Ehrismann



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