23. August 2010, Neue Zürcher Zeitung

Erstaunliches Universum

Andreas Staier im St. Peter


Der Walzer, den der Wiener Verleger und Komponist Anton Diabelli als Werbegag an fünfzig komponierende Zeitgenossen Österreichs mit der Bitte um je eine Variation davon gab, ist kein Meisterstück, doch hervorragend für diesen Zweck geeignet: Der Aufbau ist einfach, Melodik gibt es fast keine, alle Türen für Einfälle sind offen. Er entspricht genau dem Geschmack des frühen Wiener Vormärz. Auf einem Hammerflügel von 1825 hat der Pianist Andreas Staier bei den Zürcher Kammerkonzerten eine - zwangsläufig heterogene - Auswahl von zehn dieser Einzelvariationen vorgestellt, von Czerny, Hummel, Kalkbrenner und Kreutzer bis zum überbordenden elfjährigen Franz Liszt und zum harmonisch experimentellen Franz Schubert.

Logische Dramaturgie

Kurios die Qualitäten, die nebeneinanderstehen. Doch noch viel verrückter die Reaktion Ludwig van Beethovens: Nach anfänglicher Ablehnung schrieb er die berühmten dreiunddreissig Diabelli-Variationen op. 120. Staier eröffnete sie mit einer improvisatorischen Introduktion, die er aufgrund von Skizzen Beethovens selber verfasste. Dann das erstaunliche Universum der Variationen, in so logischer Dramaturgie aufgebaut und mit einer Vielfalt, welche die Teilnehmenden von Diabellis Spiel gleichsam desavouiert. Auf dem Hammerflügel und so exzeptionell und lebensvoll gespielt, wie Staier das kann, klingt das noch viel pointierter, farbiger und frecher als auf einem modernen Flügel. Ein aussergewöhnliches Erlebnis.

Kommunizieren und vermitteln

Genau solche Erlebnisse wollen die zum sechsten Mal stattfindenden Zürcher Kammerkonzerte vermitteln. Vier sehr verschiedene, doch in sich stimmige Sommerkonzerte finden statt. Wenn man die Kirche St. Peter betritt, setzt gleichsam ein Prozess der Verzauberung ein: Das intelligent gestaltete Programmheft öffnet einem bei jedem Konzert wieder neu und anders die Ohren, die Künstler kommunizieren mit dem Publikum und vermitteln auch anspruchsvolle Programme so, dass es ein lohnendes Vergnügen ist, dabei zu sein.


Alfred Zimmerlin

Zürich, Kirche St. Peter, 20. August.

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